9. Gesang
Die Geschichte von der Schlange
Eben sinds zwei Jahre, da kam ein Lindwurm und klagte stürmisch, gnädiger Herr, vor Euch: es woll ihm ein Bauer nicht im Rechte sich fügen, ein Mann, den zweimal das Urteil nicht begünstigt. Er brachte den Bauer, vor Euern Gerichtshof und erzählte die Sache mit vielen heftigen Worten.
Durch ein Loch im Zaune zu kriechen, gedachte die Schlange, fing sich aber im Stricke, der vor die Öffnung gelegt war, fester zog die Schlinge sich zu, sie hätte das Leben dort gelassen, da kam ihr zum Glück ein Wandrer gegangen. Ängstlich rief sie: Erbarme dich meiner und mache mich ledig! Laß dich erbitten! Da sagte der Mann: Ich will dich erlösen, denn mich jammert dein Elend; allein erst sollst du mir schwören, mir nichts Leides zu tun. Die Schlange fand sich erbötig, schwur den teuersten Eid: sie wolle auf keinerlei Weise ihren Befreier verletzen, und so erlöste der Mann sie.
Und sie gingen ein Weilchen zusammen, da fühlte die Schlange schmerzlichen Hunger, sie schoß auf den Mann und wollt ihn erwürgen, ihn verzehren; mit Angst und Not entsprang ihr der Arme. Das ist dein Dank? Da sagte die Schlange: Leider nötiget mich der Hunger, ich kann mir nicht helfen; Not erkennt kein Gebot, und so besteht es zu Rechte.
Da versetzte der Mann: So schone nur meiner so lange, bis wir zu Leuten kommen, die unparteiisch uns richten. Und es sagte der Wurm: Ich will mich so lange gedulden.
Also gingen sie weiter und fanden über dem Wasser Pflückebeutel, den Raben, mit seinem Sohne; man nennt ihn Quackeler. Und die Schlange berief sie zu sich und sagte: Kommt und höret! Es hörte die Sache der Rabe bedächtig, und er richtete gleich: den Mann zu essen. Er hoffte, selbst ein Stück zu gewinnen. Da freute die Schlange sich höchlich: Nun, ich habe gesiegt! es kann mirs niemand verdenken. Nein, versetzte der Mann: ich habe nicht völlig verloren; Sollt ein Räuber zum Tode verdammen? und sollte nur Einer Richten? ich fordere ferner Gehör, im Gange des Rechtes. Laßt uns vor vier, vor zehn die Sache bringen und hören.
Gehn wir! sagte die Schlange. Sie gingen, und es begegnet’ Ihnen der Wolf und der Bär, und alle traten zusammen. Alles befürchtete nun der Mann: denn zwischen den fünfen war es gefährlich zu stehn und zwischen solchen Gesellen; Ihn umringten die Schlange, der Wolf, der Bär und die Raben. Bange war ihm genug: denn bald verglichen sich beide, Wolf und Bär, das Urteil in dieser Maße zu fällen: Töten dürfe die Schlange den Mann; der leidige Hunger kenne keine Gesetze, die Not entbinde vom Eidschwur. Sorgen und Angst befielen den Wandrer, denn alle zusammen wollten sein Leben. Da schoß die Schlange mit grimmigem Zischen, spritzte Geifer auf ihn, und ängstlich sprang er zur Seite. Großes Unrecht, rief er: begehst du! Wer hat dich zum Herren über mein Leben gemacht? Sie sprach: Du hast es vernommen; Zweimal sprachen die Richter, und zweimal hast du verloren. Ihr versetzte der Mann: Sie rauben selber und stehlen; Ich erkenne sie nicht, wir wollen zum Könige gehen. Mag er sprechen, ich füge mich drein; und wenn ich verliere, hab ich noch Übels genug, allein ich will es ertragen.
Es kamen vor Euch, die Schlange, der Wolf, der Bär und die Raben. Ja, selbdritt erschien der Wolf, er hatte zwei Kinder, Eitelbauch hieß der eine, der andre Nimmersatt, beide machten dem Mann am meisten zu schaffen; sie waren gekommen, auch ihr Teil zu verzehren, denn sie sind immer begierig, heulten damals vor Euch mit unerträglicher Grobheit. Da berief sich der Mann auf Eure Gnaden, erzählte, wie ihn die Schlange zu töten gedenke, sie habe der Wohltat völlig vergessen, sie breche den Eid! So fleht‘ er um Rettung. Aber die Schlange leugnete nicht: Es zwingt mich des Hungers allgewaltige Not, sie kennet keine Gesetze.
Gnädiger Herr, da wart Ihr bekümmert; es schien Euch die Sache gar bedenklich zu sein und rechtlich schwer zu entscheiden. Denn es schien Euch hart, den guten Mann zu verdammen, der sich hilfreich bewiesen; allein Ihr dachtet dagegen auch des schmählichen Hungers. Und so berieft Ihr die Räte. Leider war die Meinung der meisten dem Manne zum Nachteil; denn sie wünschten die Mahlzeit und dachten der Schlange zu helfen. Doch Ihr sendetet Boten nach Reineken: alle die andern sprachen gar manches und konnten die Sache zu Rechte nicht scheiden. Reineke kam und hörte den Vortrag, Ihr legtet das Urteil ihm in die Hände, und wie er es spräche, so sollt es geschehen.
Reineke sprach mit gutem Bedacht: Ich finde vor allem nötig, den Ort zu besuchen, und seh ich die Schlange gebunden, wie der Bauer sie fand, so wird das Urteil sich geben. Und man band die Schlange von neuem an selbiger Stätte, in der Maße, wie sie der Bauer im Zaune gefunden
Reineke sagte darauf: Hier ist nun jedes von beiden wieder im vorigen Stand, und keines hat weder gewonnen, noch verloren; jetzt zeigt sich das Recht, so scheint mirs, von selber. Denn beliebt es dem Manne, so mag er die Schlange noch einmal aus der Schlinge befrein; wo nicht, so läßt er sie hängen, frei, mit Ehren geht er die Straße nach seinen Geschäften. Da sie untreu geworden, als sie die Wohltat empfangen, hat der Mann nun billig die Wahl. Das scheint mit des Rechtes wahrer Sinn; wers besser versteht, der laß es uns hören.
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